Josef Müller-Brockmann:
Greise, weise, leise

Herbert Fischer (WerbeWoche)

Auch im hohen Alter wirkt der grosse alte Mann im Stillen weiter, aber in seinen strengen Massstäben bleibt er unerbittlich.

Die Zürcher Tonhalle, die Schweizerischen Bundesbahnen, der italienische Technologie-Konzern Olivetti oder der Multi IBM – sie alle hat er beratend und ausführend begleitet. Ganze Generationen von Gestaltern verehren ihn als Vorbild. Als Nach-, Vor- und Querdenker hat er der Kommunikationsbranche vielbeachtete Impulse gegeben: Josef Müller-Brockmann.

Die Liste all seiner Mandate, seiner Lehraufträge an Fachhochschulen, seiner Auftritte vor internationalen Meetings und erst die Aufzählung seiner Auszeichnungen und Buchtitel, sie wäre endlos. Der Name allein ist jedoch Referenz genug. Josef Müller-Brockmann feierte 1994 seinen 80. Geburtstag. Damals Grund für die Seegalerie Rapperswil, von August bis Oktober mit einer Ausstellung ihren Gründer zu würdigen, der in den Gemarkungen der Rosenstadt als Sohn eines Baumeisters zur Welt kam und die längste Zeit seiner Jugend erlebt hat.
Während der Lehre beim Maler und Gestalter Alex Walter Diggelmann in Zürich lernte er Emil Schulthess kennen, der in diesem Atelier als Fotograf arbeitete und der es später zu internationaler Bekanntheit brachte. Die Kunstgewerbeschule Zürich blieb ihm vorerst verwehrt, weil er keinen Lehrabschluss vorweisen konnte.

An der Kunstgewerbeschule Zürich vorerst abgeblitzt

Im Buch „Mein Leben: Spielerischer Ernst und ernsthaftes Spiel“, das der Verleger und Gestalter Lars Müller in Ennetbaden zu Ehren des Jubilars herausgegeben hat, erinnert sich Müller-Brockmann: „Trotz dieser scheinbar aussichtslosen Situation wollte ich unbedingt in die Schule aufgenommen werden. (....) Ich entgegnete Ernst Keller, Fachlehrer für Grafik, dass nichts mich abzuhalten vermöge, bei ihm Student zu werden. Mit Alfred Willimann, der die Fotoklasse unterrichtete, war die Unterredung von kurzer Dauer: Dieser grossartig hilfsbereite Mensch akzeptierte mich sogleich. Damit war ich für ein Jahr je einen halben Wochentag – zu mehr Stunden reichte mein Geld nicht – Schüler von zwei Meistern in ihrem Fach.“

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Beide Lehrer prägten den Schüler nachhaltig: „Im Gegensatz zu Keller, der einer traditionellen kunstgewerblichen Richtung verpflichtet war, stand Willimann den Bestrebungen des Bauhauses nahe. Bei ihm lernte ich die Verwendung der fotografischen Mittel und die typografische Gestaltung kennen. Er orientierte sich an den Pionieren der funktionalen Typografie, der Fotografik und der sachlichen Fotografie und suchte nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten.“

Der Bauhaus-Einfluss

Nachdem ich erkannt hatte, dass meine Stärke nicht auf dem Gebiet der Illustration lag und dass andererseits die Illustration keine sachliche Mitteilung, sondern eine subjektive Darstellung einer bestimmten Situation ist, verwandte ich all meine Mühe auf das Erlernen der Typografie und der Fotografie.
Wie in der Zeichnung wollte ich auch in der Typografie die subjektive, gefühlsorientierte Gestaltung vermeiden und eine den tradierten typografischen Regeln gehorchende Ordnung suchen: Optimal lesbare Zeilenlängen, Zeilendurchschuss, Schriftkontraste usw. sollten beachtet werden. Ich vermied dekorative Elemente und trachtete nach möglichst grosser Sachlichkeit.
Das galt auch für die Fotografie: Das Sujet hatte mit seinen eigenen Werten und Charakteristiken ohne jede Verfremdung in Erscheinung zu treten. Bei rein typografischen Gestaltungen versuchte ich die Felder in kontrastierende Spannung zu den freibleibenden Flächen zu setzen. Dabei verliess ich mich nicht primär auf mein Gefühl, sondern auf messbare Proportionen.
Das Verhältnis für typografische Werte verschaffte ich mir aus verschiedenen Quellen. Namentlich die Typografie, wie sie am Bauhaus in Dessau und von Tschichold praktiziert wurde, beeinflusste mich wesentlich.

Aus: J. Müller-Brockmann.
Mein Leben: Spielerischer Ernst und ernsthaftes Spiel.
Verlag Lars Müller, Ennetbaden. ISBN 3-906700-78X

Willy Rotzler über Josef Müller-Brockmann

Dieser Einfluss ist auch dem bedeutenden Kunsthistoriker Willy Rotzler aufgefallen. Er schrieb: „ Wer aus professionellem Interesse genauer nach der Gestalterpersönlichkeit fragt, der entdeckt, dass zwischen dem grafischen Auftrag und dessen Bewältigung – konzeptuell und formal – oft enge Beziehungen bestehen. Andersherum gesagt: Es sind kaum Zufälle, die bei einer Plakat-Aufgabe zur Wahl eines bestimmten Grafikers führen, umgekehrt sind es auch nicht die Zufälle einer „Gelegenheitsarbeit“, die einen Grafiker mit bestimmten Aufgaben konfrontieren. Meist sind tiefgründige Korrespondenzen im Spiel, die für Originalität und Qualität eines Plakates entscheidend sind.
Für die Wirkweise und Wirkkraft solcher innerer Korrespondenzen ist das Plakatschaffen von Josef Müller-Brockmann ein überzeugendes Beispiel. Er gehört zur „Zürcher Schule“ innerhalb der Schweizer Grafik, also zu einer Generation und einem Kreis von grafischen Gestaltern, die durch die spezifischen Unterrichts- und Lehrkonzepte der Zürcher Kunstgewerbeschule und vor allem durch einige Lehrpersönlichkeiten (wie Ernst Keller und Alfred Willimann) geprägt wurden. Wichtiger als das handwerkliche Know-how war in dieser Ausbildung die Einschätzung des Grafikers als einer künstlich tätigen Persönlichkeit mit ausgeprägten wie moralischen Berufsethos.“

Im Leben und im Beruf ein Kämpfer

Dank Begeisterungsfähigkeit, Durchhaltewillen und Selbstdisziplin trotze der junge Mann mehrmals nachteiligen Ausgangspositionen und Randbedingungen und das nicht allein in jungen Jahren; auch später zeichnete sich durch Beharrlichkeit und Kompromisslosigkeit aus und zwar sowohl bezüglich seiner Geschäftspolitik wie auch in der Sache, die er gerade kommunizierte. Die Strenge seiner Arbeiten spiegelt diese auffälligen Züge in seiner geradlinigen und starken Persönlichkeit.

Rhythmisch, transparent und schwerelos

Als ich um 1950 die ersten Plakate für Konzerte der Tonhalle-Gesellschaft Zürich entwarf, meldeten sich die drei wichtigsten Zürcher Zeitungen mit negativen Kommentaren. Sie stiessen sich an der abstrakten Gestaltung der Plakate, die sie als publikumsfeindlich kritisierten: rhythmisch angeordnete geometrische Elemente symbolisierten das musikalische Programm.
Ich versuchte jeweils, musikalische Themen wie Rhythmus, Transparenz, Schwerelosigkeit usw. Mit konkreten, ungegenständlichen Formen, die ich in einen logischen Zusammenhang brachte, zu interpretierten. Es ging mir auch darum, die Kompositionen der geometrischen Elemente mit der Anordnung der Typografie formal und proportional in sinnvolle Übereinstimmung zu bringen.
Die Kritik von Carlo Vivarelli führte zu meinen ausschliesslich typografischen Konzertplakaten. Ich versuchte nun mit der dynamischen Anordnung der Worte und Zeilen eine schwebende, transparente Typografie zu erreichen, um den Eindruck von musikalischer Poesie vermitteln zu können.

Aus: J. Müller-Brockmann
Mein Leben: Spielerischer Ernst und ernsthaftes Spiel.
Verlag Lars Müller, Ennetbaden. ISBN 3-906700-78X

Phantasie und Genauigkeit

1957 trat Josef Müller-Brockmann an der damaligen Kunstgewerbeschule Zürich die Nachfolge Ernst Kellers an. Aber: „So sehr ich Keller schätzte, meine Berufsauffassung war inzwischen der seinen diametral entgegengesetzt. (...) Meine Auffassung von der Aufgabe des Grafikers widersprach dieser künstlerischen Haltung. Ich war der Überzeugung, dass Inhalte und Produkte in Wort und Bild sachlich zu vermitteln seien, um den Adressanten in die Lage zu versetzten, sich ein möglichst objektives Bild von der Mitteilung zu machen. Damit war auch die Verantwortung des Gestalters für die Wirkung seiner Arbeit in der Öffentlichkeit angesprochen. Mein Unterricht zielte darauf hin, die Aufgaben, die auf den visuellen Gestalter zukommen können, sachlich und logisch anzugehen. Während die Schüler sich unter dem Grafikunterricht eine primär künstlerische, Phantasie erfordernde Ausbildung vorstellten, wollte ich die jungen Menschen zur Genauigkeit im Denken anleiten.“

Leitung der Schule ultimativ abgelehnt

Vorschläge zur Reform der Kunstgewerbeschule und sein erstklassiger Ruf als Ausbilder führten dazu, dass ihm der Zürcher Erziehungsdirektor deren Leitung anbot. „Mit meinen Bedingungen Schliessung von vier Fachklassen und Entlassung aller Lehrer war ich natürlich chancenlos. Ein Jahr darauf erging an mich die selbe Anfrage von der Gewerbeschule Basel. Die Notwendigkeit der Entlassung begründete ich damit, dass ein Lehrer nach längerem Unterricht ohne praxisbezogene Erfahrung als freischaffender Gestalter in der Regel ausgetrocknet ist. Jeder Lehrer sollte nach spätestens fünf Jahren den Schuldienst verlassen, um sich erneut auf dem freien Markt zu bewähren. Getreu dieser Devise kündigte ich selbst 1960 nach vier Jahren meinen Lehrauftrag.“ Nun folgten Lehrtätigkeiten in Kyoto, Tokyo, Osaka und in Ulm.

Werbung für edle Rosenthal-Produkte

Anfangs der Sechziger Jahre begegnete Josef Müller-Brockmann (der zweite Name steht für seine im Jahre 1964 verstorbene Frau, Verena Brockmann) dem Porzellanfabrikanten Philipp Rosenthal, auf dessen Initiative die „Gruppe 21“ entstand, eine Vereinigung von 21 Industriellen, die mit gut gestalteten Produkten zur Hebung der Tafelkultur beitragen wollten: „Ich erhielt den Auftrag, den ideellen Gedanken in Inseraten und Prospekten, später auch in Ausstellungen zum Durchbruch zu verhelfen. Nach einer euphorischen Anfangszeit entwickelten sich im Lauf der Jahre divergierende Ansichten, die schliesslich zur Auflösung der Gruppe 21 führten.“

IBM-Design-Berater für ganz Europa

1967 berief IBM Josef Müller-Brockmann als Design-Berater für Europa. Seine Aufgabe bestand in der kritischen Beratung der IBM-internen Gestalter, der Grafiker, Fotografen und Ausstellungsgestalter in allen westeuropäischen Ländern. Jedes Jahr traf er mindestens einmal mit diesen Leuten an ihren Arbeitsplätzen zusammen. Sie unterbreiteten ihm ihre Arbeiten, um sie gemeinsam auf typografische, fotografische oder kompositionelle Schwächen hin zu prüfen und bessere Lösungsmöglichkeiten zu diskutieren. Die Designer hatten bis anhin wenig über funktionelle Typografie, Fotografie und Komposition gehört. Deshalb lag ihm besonders daran, ihnen sein Rastersystem näherzubringen: „Nach wenigen Jahren waren die meisten IBM-Publikationen mit Hilfe dieses Ordnungssystems konzipiert.“ Das IBM-Mandat übte er bis 1988 aus.

Die Tabus

Ich erstellte eine Liste von Produkten und Ideen, für die ich nicht tätig sein wollte. Dazu gehörten Tabakwaren, Alkoholgetränke, Kriegsspielzeug, militärische Institutionen, Boden- und Häuserspekulation und politische Parteien. An diese Richtlinien habe ich mich bis heute gehalten.

Aus: J. Müller-Brockmann
Mein Leben: Spielerischer Ernst und ernsthaftes Spiel.
Verlag Lars Müller, Ennetbaden. ISBN 3-906700-78X

Die Tücken einer Schrift für Olivetti-Schreibmaschinen

Mit diesem Leistungsausweis konnten weitere bedeutende Mandate nicht ausbleiben: „Die Siebziger Jahre brachten eine Reihe von interessanten Aufträgen von Industrie, Wirtschaft und kulturellen Institutionen“, erinnert sich Müller-Brockmann: „Dr. Renzo Zorzi, Leiter der Werbeabteilung von Olivetti Mailand, beauftragte  mich mit der Entwicklung einer Schrift für eine neue tragbare Schreibmaschine, die sich durch ihre eigenwillige Form auszeichnete. Bei dieser Aufgabe erlebte ich die besondere Problematik der Gestaltung von Schriften für die Schreibmaschine: Alle Buchstaben müssen auf einer gleich grossen Basis stehen. Bei schmalen Buchstaben entstehen so immer zu grosse Zwischenräume zu den vorangehenden oder nachfolgenden Lettern. Diesem Dilemma ist gestalterisch nicht beizukommen.“

Autor zweier Standard-Werke

Zusammen mit seiner zweiten Frau Shizuko Yoshikawa schuf der längstens international angesehene Schweizer 1971 das Buch „Geschichte des Plakats“ für den Zürcher ABC-Verlag. Es ist das erste Werk, das die Plakate nach thematischen Gesichtspunkten in fünf Bereiche einteilt: in das illustrative, das sachlich-informative, das konstruktive, das experimentelle und das serielle Plakat. Dreihundert Plakate, grösstenteils farbig, illustrieren den Text. Für den Druck wurden bis zu vierzehn Farben eingesetzt. Das Buch war sehr schnell vergriffen, wurde aber wegen der hohen Druckkosten nicht neu aufgelegt.

Geschichte der visuellen Kommunikation erstmals aufbereitet

Bis 1971 gab es kein Buch, das die Bedeutung der Information mittels Bildern seit den Anfängen der Kultur bis zur Gegenwart behandelte. Nun erarbeitete Müller-Brockmann die „Geschichte der visuellen Kommunikation“, erschienen im Verlag Arthur Niggli in Niederteufen: „Mich reizte der Gedanke, das Bedürfnis des Menschen nach Kommunikation in Form der bildlichen Zeichen aufzudecken. Meine umfangreiche Bibliothek lieferte mir die Nachschlagewerke, denen ich die mir nötig erscheinenden Informationen entnahm.“

Integer, treu, ermutigend

Der Herausgeber der Müller-Brockmann-Autobiografie, der Verleger und Gestalter Lars Müller in Ennetbaden, über den Jubilar: „Die Gelassenheit und selbstkritische Distanz, mit der Josef Müller-Brockmann seine Lebensgeschichte erzählt, erinnern an Tugenden, deren Geringschätzung wir heute beklagen müssen. In seiner Integrität und der Treue zu den Prinzipien, aber auch zu den Menschen, die ihn in seinem Leben begleitet und unterstützt haben, ist Josef Müller-Brockmann ein ermutigendes Vorbild.“
Dem ist nichts beizufügen.